Heute vor genau einem Monat war mein letzter Tag in
Russland.
Und er schmeckte nach Zartbitterschokolade: in einem Moment
wunderbar süß und bitter, schön und traurig. Es war vielleicht der intensivste
Tag des ganzen zurückliegenden Tages und deshalb möchte ich ihn gerne noch
einmal in Gedanken durchleben und ihn euch in diesem Blog auch nicht
vorenthalten…
Wie auch schon vor einem Jahr waren die letzten zwei Wochen
zwischen halb gepackten Koffern in zwei Welten, mit dem Wunsch sich doch
wenigstens verdoppeln zu können, nichts verpassen zu wollen und jeden Moment
nochmal ganz intensiv auszukosten, mit den vielen letzten Malen und zwischen
Abschiedsschmerz und Vorfreude ziemlich rasant. Doch am Vorabend kam dann die
Ruhe. Zum einem großen Teil war es wohl die Erleichterung, dass all das
Verabschieden morgen endlich ein Ende haben würde. Zum anderen konnte ich auf
ein schönes Jahr und vor allem auch auf noch ein paar wunderschöne Momente in
den letzten Tagen zurückblicken. Als ich in Küche auf dem Fußboden saß, um die
letzten Dankeschöns fertig zu basteln, kam ich auch zu dem Schluss, dass ich
meine Zeit gut genutzt und alles, was ich mir noch vorgenommen hatte, geschafft
hatte und in der letzten Woche nochmal mit jedem Kind eine Stunde etwas alleine
gemacht und mich so schon ein bisschen von ihm verabschiedet hatte.
Und so begann der letzte Tag, abgesehen vom Weckerklingeln
natürlich, ganz friedlich. Abends um kurz nach 10 würde ich voll bepackt die
Wohnungstür hinter mir schließen, mich mit drei anderen Freiwilligen am Bus
treffen und ausreisen, aber bis dahin blieb mir noch ein Tag mit den Menschen,
die mein Freiwilligenjahr am allermeisten geprägt hatten.
Wie an so vielen Morgenen traf ich meine «Соседка» (meine Gruppennachbarin) Johanna früh
am Bahnhof und spätestens ab da verging die Zeit so schnell und irgendwie doch leicht
wie die verquatschte Elektritschkafahrt und ich hätte sie mir nicht schöner
ausmalen können:
goldene
Nebelfelder und der Fußweg an der klaren Herbstluft
(ich finde
nämlich, dass der Herbst mit seinen ganzen Gegensätzen und seiner
melancholischen Grundstimmung am allerbesten zu Russland passt…)
Katja, die, wann immer sie die
Zeit hat, in Pawlowsk und der Gruppe 33 vorbeischaut und die mich gleich in
Pawlowsk empfing und mir ein T-Shirt mit den Bildern aller meiner Kinder
schenkte, „damit sie alle mit mir fahren können“
ein entspannter Tag mit Katja und
den Kindern in der Gruppe und draußen in der Korbschaukel beim Spazierengehen
ein Festmittagsessen mit den
Kollegen
ein kleines „Danke-und-bis-bald-fest“
für alle Kinder und Pädagoginnen unserer Gruppen 32 und 33
mit jeder
Menge Fruchtbrei, Jogurt, Keksen, Säften und ein paar Liedern
ein letztes Mal alleine als
Freiwillige durch „meine Gruppe“ gehen und „bis zum Wiedersehen“ sagen
meine Lieblingssanitarka die am Ende
dieser Runde in die Gruppe kommt, sich zum dritten Mal und noch herzlicher von
mir verabschiedet und mich mit vielen ermutigenden Worten und lieben Wünschen
schließlich zur Gruppentür schiebt :)
vor dem Kopus schicken Karo, Johanna
und ich Luftballons mit unseren Wünschen in den strahlend blauen Himmel
und viele liebe Kollegen „geleiten“
uns noch zur Elektritschka…
Ich glaube, mir hätte dieser
letzte Tag nicht besser zeigen können, dass es die richtige Entscheidung war,
nach Russland zu gehen, einen Freiwilligendienst zu machen und vor allem dann
letztendlich doch noch in Pawlowsk zu arbeiten.
Es gibt in Pawlowsk so vieles, was ich sehr
lange nicht verstanden habe, noch immer nicht verstehe oder vielleicht sogar
nie ganz verstehen werde. Mein Kopf hat während meiner Zeit in Pawlowsk
eigentlich unermüdlich weitergearbeitet. Das war vielleicht manchmal sehr
anstrengend, macht diese Zeit für mich aber auch umso intensiver.
Die Zeit war sicher eine große Herausforderung
für mich. Schon an das Gefühl, plötzlich viel selbstständiger arbeiten zu
müssen, aber auch zu dürfen, musste ich mich eine ganze Weile erst gewöhnen. Aber
ich glaube, ich bin an dieser neuen Aufgabe gewachsen. Es ist ein gutes Gefühl,
wenn einem andere so viel Verantwortung und Selbstständigkeit zutrauen und mit
der Zeit traute ich auch mir selbst immer mehr zu.
Am meisten geholfen haben mir dabei die Kinder selbst. Vor meinem ersten
Tag in Pawlowsk hatte ich ein wenig Angst davor, wieder ganz von vorne beginnen
zu müssen, erst zu jedem Kind wieder einen Zugang finden zu müssen und es
vielleicht nicht zu schaffen, ihnen nicht genug geben zu können. Doch die Kinder
haben mir von Anfang an so viel Vertrauen entgegengebracht und mich gleich
einfach so bei sich aufgenommen. Das hat mich auch selbst ruhiger, entspannter,
geduldiger und nachsichtiger mit mir selbst werden lassen.
Das Schönste, was ich bei meiner Arbeit erleben durfte, war das
Sich-auf-andere-einlassen, andere Menschen mit all ihren Facetten
kennenzulernen und ihre Behinderung als (nur) einen Teil ihrer ganzen
Persönlichkeit zu akzeptieren und dafür selbst als ganzer Mensch angenommen zu
werden.
Und ich durfte erfahren, wie viel Freude es
macht, anderen Menschen dabei zu helfen, sich weiter zu entfalten!
Umso länger ich in Pawlowsk arbeitete, desto
geübter wurde ich, die Arbeit lief mir immer besser von der Hand und ich
schaffte jeden Tag deutlich mehr. Trotzdem, ich habe das Gefühl, dass man in
Pawlowsk nie alles schaffen kann, was man eigentlich noch schaffen und
erreichen möchte, noch nicht einmal in einer von vielen kleinen Gruppen. Und
dabei kamen mit jedem weiteren Tag doch immer leichter und schneller neue Ideen
für die Arbeit…
Die Arbeit in Pawlowsk hat mich deshalb oft an
meine Grenzen stoßen lassen, worüber ich
aber mit etwas Abstand betrachtet sehr froh bin. Indem ich mich mit meinen
eigenen Grenzen und Schwächen auseinandersetzen musste, habe ich viel über mich
selbst gelernt und es hat mir wohl noch für eine lange Zeit viel Stoff zum
weiter Nachdenken und Reflektieren gegeben.
Meine Antwort auf die Frage, ob ich in meinem
Freiwilligendienst etwas erreichen konnte:
Wenn ich nur ein paar Kindern ein paar
glücklichere Stunden schenken konnte, dann hat sich mein Dienst für sie schon
gelohnt. Gerade weil ich oft das Gefühl hatte, dass immer mehr immer noch nicht
genug wäre, habe ich viel mehr den Glauben an die kleinen Dinge gefunden, sich
auf kleine Dinge besinnen, die einen glücklich machen können und auf das
konzentrieren, was man im hier und jetzt hat und nicht schon daran denken, dass
man das Kind irgendwann wieder in sein Bett legen und es wieder alleine lassen
muss.
Meine Kinder sind alle wahre
Überlebenskünstler und haben es mir so gut vorgemacht.
Da ist zum Beispiel Sascha, der lange Zeit nur
über eine Magensonde ernährt wurde, der lange Zeit sehr still und teilnahmslos
war und der jetzt jeden Morgen laut lacht und sich freut, dass er einige Löffel
wieder essen und schmecken kann. Oder Serjoscha, der größte Optimist, den ich
kenne, der jeden Tag lacht, sodass seine Augen richtig funkeln und am liebsten
jeden ganz fest drücken möchte!
Für mich hat sich auf jeden Fall jede Minute meines Freiwilligendienstes
gelohnt, weil ich so viel Offenheit, Dankbarkeit und Liebe erfahren durfte.
Schon die Erinnerung an unsere gemeinsame Zeit, lässt mich sofort über
das ganze Gesicht strahlen.
Jetzt nicht mehr bei den Kindern zu sein, so viele Stunden mit ihnen zu
verbringen und danach nochmal Stunden von dieser Zeit zu reden, fällt mir viel
schwerer als ich gedacht hätte, als ich mir vor einem Jahr gewünscht habe, mir
würde der Abschied von Russland als Zeichen der Bestätigung schwer fallen.
Aber Abschied heißt, was Neues kommt! Und das gilt für die Kinder
genauso wie für mich. Ich wünsche ihnen und dem nächsten Freiwilligen eine
genauso schöne, und garantiert unvergessliche gemeinsame Zeit!