Samstag, 17. November 2012

Schatzsuche

Ein kleines bisschen Chaos
In St. Petersburg ist es zwar im Moment wärmer als in Deutschland, aber leider ist es draußen ziemlich grau und nass. Also verbrachten wir den Samstagnachmittag in der Wohnung.
Eigentlich wollten wir ja nur schnell einen Lampenschirm im Flur anbringen. . .
aber irgendwie packte uns dann die Abendteuerlust - oder war es die Langeweile oder die ich-hab-eig-keine-Lust-zum-Russisch-lernen-oder-Karten-schreiben-Laune? Naja, jedenfalls wollten wir plötzlich etwas ganz wagemutiges tun und holten von dem Brett über dem Eingangsbereich ein paar große Platiktüten und Müllsäcke herunter.
Aus einer Menge Müll, der sich dort im Laufe der Generationen von Freiwilligen angesammelt hatte, fischten wir sogar ein paar echte Schätze. Zwar klebten unsere Hände bald schon vom Staub, aber dafür freuten wir uns riesig über de bunte Mischung die am Ende vor uns auf dem Boden lag:
Gleich nochmal Staub gewischt!
Räucherstäbchen, Wunderkerzen, eine rote Christbaumkugel, eine zweite Gardine für mein Zimmer, zwei bemerkenswert kitschige Engel, ein  großer Stapel Postkarten, ein Plan der Moskauer Metro, Stadtführer durch St. Petersburg und Helsinki, eine schwere Schachtel voller Kleingeld, Bettwäsche, Leuchtsterne, ein kaputter nachtblauer Regenschirm, ein Schreibblock nur die ersten Seiten gefüllt mit dem WG-Leben unserer Vorgänger (der kam wie  gerufen,weil unser Block in der Küche schon voll war), Hanteln, jede Menge englische Songtexte (leider ohne Akkorde), drei  Notenhefte für die Geige (warten schon in meinem Zimmer darauf  mal gespielt zu werden), eine russische Bibel, eine Eisenstange (die  wir gleich an der Küchenwand angebracht und schon mal die  Weihnachtsbaumkugel und eine rote Glocke drangebaumelt  haben), ein Geschenkesack für Weihnachten, ein roter  Nikolausstiefel, Tapetenkleister, ein Porzellanosterei mit Blümchenmuster und ein gemalter "Haseneselmensch" unter dem eine E-Mail-Adresse notiert war und (ihr ahnt es vielleicht schon) wir haben es uns natürlich nicht nehmen lassen, einer gewissen Steffi gleich mal zu schreiben :D

Da musste ich doch gleich an dich denken!

Freitag, 16. November 2012

Bunter Salat

Ich bin jetzt schon etwas länger hier, dass merkt man wohl auch an meinem Blog. Vieles, was vorher Stoff für ellenlange Blogeinträge geliefert hätte, ist jetzt kaum noch nennenswert. In den letzten Tagen habe ich euch aber einiges vorenthalten, wovon ich euch doch noch kurz erzählen möchte.
Los geht's!

Samstag vor nun schon fast zwei Wochen waren wir mit den anderen Freiwilligen in der Eremitage, die ja wohl Pflichtprogramm für jeden Touristen ist und wo es selbst für jeden St. Petersburger auch nach dem 100. Besuch noch Neues zu entdecken gibt.
Das größte Kunstmuseum der Welt ist mit den vielen Räumen, die voller Kunstschätze, Farben und Gold sind, schon irgendwie beeindruckend, aber für meinen Geschmack auch furchtbar kitschig. . .
Naja,seht einfach selbst:

Die größte Vase der Welt -
wurde uns
zumindestens erzählt. . .


aber vielleicht war es
auch diese hier. . .
Dann hier zu bewundern:
die größte grüne Vase der Welt
oder so. . .
 Spieglein, Spieglein an der Wand. . .

Es gibt Menschen, die fotografieren
furchtbare Ölgemälde,
andere freuen sich lieber über Werbung :D
Also in diesem Saal würde ich schon
gerne mal einen Wiener Walzer tanzen


eine Uhr :)


















Letzten Sonntag haben Bettina und ich uns dann endlich mal aufgerafft und haben zum ersten Mal in Russland einen Gottesdienst besucht. Nein, wir waren nicht in einem orthodoxen Gottesdienst (auch wenn ich mir das unbedingt einmal anschauen möchte, wenn ich mehr Russisch kann) und wir waren auch nicht in der "Kirche des Heiligen Stalinismus" (tja, lesen müsste man können. . . nicht wahr, Bettina?), aber dank Stadtführer und Internet haben wir die deutschen evangelischen St. Petri-Gemeinde. Der Gottesdienst dort ist nämlich auf Deutsch (mit Russischen Übersetzungen). Gesungen wird auch aus deutschen Gesangsbüchern nur das außer dem Pfarrer und uns beiden kaum einer den Mund aufgemacht hat. . .

Alle Vögel fliegen hoch!
Die Petrikirche
Für dieses Foto habe ich mir
die Hände abgefroren!


Zum Martinsumzug am Abend sind wir dann aber nicht gegangen, obwohl das bestimmt ein ganz schönes Bild gewesen sein muss: viele Kinder mit bunten Laternen mitten auf dem Newski Prospekt (eine der größten und berühmtesten Straßen hier). Dafür waren wir nochmal zu einem Konzert in der Kirche. Ein entspannter Abend :)
Die Auferstehungskirche bei Nacht
Bettina (ausnahmsweise geht das mal nicht auf mein Konto :D) hat übrigens die Klospülung kaputt gemacht, aber Not macht ja bekanntlich erfinderisch! Auf unsere Idee den Spülknauf mit Strick und Korken zu ersetzen waren wir eigentlich ja schon ganz stolz, aber dann haben wir uns sogar noch selbst übertroffen und hatten im selben Moment die gleiche Idee.
Ich geh zu Bettina ins Zimmer: "Bettinaaaaaa? Eigentlich fehlt da noch. . ." - Bettina dreht sich um, das Papier schon in der Hand. Also: auf Schere & Buntstift - fertig - LOS!
Eine halbe Stunde später. . . das Ergebnis (das ganz und gar KEINE Notlösung mehr ist!):

Unsere liebe Doris!
Nur falls ihr euch fragt, wo in dem ganzen Blogeintrag Sophie bleibt: die hat das Petersburger Nachtleben unsicher gemacht, aber wir haben sie trotzdem lieb! :)

Und vom meinem letzten Fahrdienst am Donnerstag wollte ich euch noch unbedingt erzählen, vor allem weil ich jetzt im Nachinein nur noch drüber lachen kann. Nochmal kurz zur Erklärung: Mittwoch - Freitag holeich immer einen Jungen von zu Hause ab und fahre dann mit ihm zusammen mit dem Sozialtaxi zum Tageszentrum. Die Sozialtaxis sind eigentlich ganz normale Taxis, aber die Eltern müssen für die Fahrt nur ein Viertel des Fahrpreises zahlen. Was für ein Taxi wir da bekommen ist reine Glückssache. . .
Für meine Begriffe furchtbar waghalsig sind die Fahrten eigentlich immer, aber das letzte Taxi war auch in anderer Hinsicht mit Abstand das , das ich bisher hatte:
Es roch seltsam süßlich, die Rückbank war mit einem bunt gemusterten schonbezug bezogen, mit dem ich irgendwie Indien assoziierte, der Boden war die ganze Zeit schummerig blau beleuchtet und dazu passend dröhnte aus dem Radio französische Schauermusik (dunkle Bässe und tiefe Streicher und dazu eine heisere Stimme, die mich in einem leisen Sprechgesang auf französisch zutextete). . . 
Naja, die Musik wurde dann aber noch echt abwechslungsreich. Von englischen Balladen, über die übliche russische Taximusik (die immer ein bisschen wie ein und das selbe Lied nur jedes Mal etwas am Computer überarbeitet klingt) bis hin zu einem doch wieder ziemlich verstörenden deutschen Lied (der Sprechgesang über dem Rhythmuschaos ging ungefähr so: "Super, super gut. Mir geht's super gut. Alles super gut. Super, super gut. . .) war alles dabei.
Und dann war da noch der Fahrtweg. Normalerweise fahren wir immer die gleiche Strecke und sind eine halbe Stunde später da. Ich weiß nicht, in was für eine kleine seitenstraße der Fahrer abgebogen sein muss, jedenfalls sah ich plötzlich rechts und links aus den fenstern nur einen Stacheldrahtzaun. der Rest der Fahrt war nicht mehr so entspannend wie sonst. Ich hatte keinen Plan, wo wir sein konnten und der Fahrer machte auf mich auch nicht den Eindruck. Jedenfalls guckte der ständig (selbstverständlich beim Fahren) in sein Notizbuch und einmal fuhren wir links auf eine dreispurige Straße, doch nach zweihundert Metern überlegte es sich der Fahrer offensichtlich anders und fuhr die Straße bis zur Kreuzung im Rückwärtsgang wieder zurück - ganz lässig. . . 
Gerade als ich mir ein Herz fassen und den Fahrer fragen wollt, ob wir auch wirklich zur "Rjabnowaya" fahren würden, bogen wir rechts ab und wusste ENDLICH, wo wir waren. Zwei Minuten später kamen wir nach der doppelten Fahrzeit heil am Ziel an :D




Mittwoch, 7. November 2012

Was wäre wenn. . .


Im Laufe der nächsten Wochen werden alle Freiwilligen von Perspektivy in 2 Gruppen nach und nach die anderen Projekte besuchen. Heute ging es los mit dem Besuch des Kinderheims für schwer mehrfachbehinderte Kinder in Pawlowsk, das ein wenig außerhalb der Stadt liegt.
Auf Pawlowsk war ich besonders gespannt gewesen, da ich dort ursprünglich arbeiten sollte und mich in Deutschland eigentlich auch schon darauf eingestellt hatte. . .
Der Wecker klingelt, viel früher als sonst, schon um 6. . . Ich frühstücke schnell und dann geht es los. . . Wir (Bettina und ich) fahren mit der fast menschenleere! Rolltreppe nach unten und bekommen in der Metro sogar gleich einen Sitzplatz! Vier Stationen später steigen wir aus und Treffen am Bahnhof Nastia. Weiter geht es mit der Eletritschka, das erste Mal für mich! Nach fast einer Stunde Fahrt geht es noch eine Viertelstunde zu Fuß weiter. Es ist immer noch dunkel und immer noch dieses seltsame Gefühl. Das wäre mein Arbeitsweg gewesen. . .
Wir kommen an ein Pförtnerhäuschen: Passkontrolle (wir stehen schon auf einer Besucherliste) und dann betreten wir das Gelände.
In Pawlowsk leben ca. 350 Kinder in 4 Häusern (Korpussen). Auf den Stationen kümmern sich vor allem Sanitarkas, also ungelernte Pflegerinnen, um die Kinder, füttern und waschen sie, sodass die Kinder aufs Nötigste versorgt sind. Ärzte und Physiotherapeuten gibt es leider nur sehr wenige. Das Kinderheim ist eine staatliche Einrichtung und die Kinder, die hier liegen, gelten als bildungsunfähig und damit auch als förderungsunwürdig. Das wusste ich schon über Pawlows und ich habe es mir damals in Deutschland, als es noch hieß, ich würde dort arbeiten, sehr trist und grau vorgestellt, wahrscheinlich auch, um am Ende nicht zu sehr geschockt zu sein.
Aber an den Fenstern eines Gebäudes, an dem wir vorbeilaufen, kleben bunte Fensterbilder. Das muss das Haus Nr. 4 sein. Hier hat Perspektivy vor mehr als 15 Jahren angefangen zunächst Freiwillige zu holen, die die Kinder wenigstens eine Zeit lang aus den Betten holen und ihnen etwas Zuwendung schenken.
Tatsächlich betreten wir das Haus. Es ist ziemlich alt und es riecht ein bisschen.
Die langen, schmalen Flure sind mintgrün gestrichen und wirken bei dem künstlichen Licht irgendwie etwas unwirklich. Lauter Türen.  Hin und wieder steht eine Tür offen und man sieht durch sie das Gesicht eines kleinen Bewohners. Die Zimmer sind viel heller, wärmer und freundlicher als die Flure und vor allem individueller. . . Jedes Zimmer sieht anders aus: bunte Gardienen, Fensterbilder, große Wandbilder, Herbstblätter und an den Decken Mobiles. Eigentlich ganz in Ordnung. . .
Die Kinder in ihren Betten, Rollstühlen oder auf den Fluren wirken alle so schwach und zerbrechlich und am liebsten würde man alle auf einmal in den Arm nehmen. . .
Die meisten Kinder sind sehr neugierig. Viele freuen sich und lachen uns an, andere beobachten uns nur ganz genau, andere scheinen uns aber auch gar nicht zu bemerken. Und immer wieder kommt ein Kind und spielt kurz mit einem von uns. Immer wieder greift eine kleine Hand nach einer von unseren und möchte mal hochgenommen werden. . .
Welche Veränderungen Perspektivy in diesem Haus schon bewirkt hat, ist wirklich beeindruckend:
In jedem Zimmer, in dem jeweils  5-10 Kinder leben, ist nun ein Freiwilliger und inzwischen gibt es auch ausgebildete Spezialisten von Perspektivy, die die Kinder weiter fördern.
Außerdem gibt es z.B. ein Klassenzimmer in dem die Kinder spielerisch unterrichtet werden,  Kunst- und Musikangebote und einen Snoozelraum.
 Nach dem Rundgang in diesem Haus gehen wir noch ins Haus Nr.2, in dem Perspektivy seit ungefähr einem Jahr arbeitet. Hier ist die Atmosphäre irgendwie anders. . . etwas kühler (was wohl auch daran liegen mag, dass es zur Zeit im unteren Teil keine Heizungen gibt, wie wir etwas später erfahren)
Alles hier ist noch etwas kleiner, etwas weniger bunt und etwas weniger lebhaft. . . Perspektivy wird in der staatlichen Einrichtung eigentlich nur „geduldet“ und kann deshalb nur sehr langsam Neues einführen, aber Pawlowsk ist wohl ein gutes Beispiel dafür, dass man auch mit vielen kleinen Schritten etwas bewegen und verändern kann. . .
Aber sagte ich gerade „weniger lebhaft“? . Naja, da kannte ich ja auch die letzte Gruppe noch nicht.
In dem letzten Zimmer wohnen die aktivsten Kinder, die uns schon in ihren Betten stehen begrüßen. Schnell sind alle Kinder bei uns auf den Armen, nehmen uns Besucher genau unter die Lupe oder laufen mit uns durch den Raum.
Ich weiß noch nicht einmal, wie das Kind hieß, mit dem ich gespielt habe, aber ich werde es bestimmt nicht so schnell vergessen. Wie es sich gefreut hat! Was von diesen Kindern (auch bei uns im Tageszentrum) kommt, ist einfach so ehrlich und unverfälscht und ich mich ertappte mich dabei immer wieder mit einem breiten Grinsen.
Und dann war unser Besuch auch schon wieder vorbei und es ging zurück, wieder mit so einem komischen Gefühl. Vielleicht eine Mischung aus Freude und Traurigkeit. . . Freude noch von dem Lachen der Kinder und ihren kleinen Händen in meinen Haaren; und Traurigkeit, dass diese Kinder so nach Zuwendung betteln müssen und über das was ihre kleinen Augen alles gesehen oder eben NICHT gesehen haben.
Dazu kam eine große Portion Nachdenklichkeit:
Was würden die Kinder alles können, wenn sie dieselben Möglichkeiten gehabt hätten in Deutschland?
Bei uns im Tageszentrum ist ein blinder Junge, der vor einem Jahr aus Pawlowsk adoptiert wurde. Er angefangen zu sprechen und inzwischen kann er auch schon sehr gut mit dem Blindenstock laufen. Vor einem Jahr sah das wohl noch gar nicht danach aus. . .
Und  da ist noch etwas: (Wie)kann es jemanden geben, den die Kinder von Pawlowsk und ihre Ge schichten nicht irgendwie berühren und nachdenklich stimmen?. .
Ich bin froh, Pawlowsk einmal gesehen zu haben, aber ich arbeite auch gerne im Tageszentrum, wo mir inzwischen schon alles sehr vertraut ist.
Anders als vielleicht in Pawlowsk hatte ich dort nicht das Problem, mit so viel Leid konfrontiert zu werden, sondern eher hatte ich zu Anfang fast das Gefühl, dass meine Hilfe hier kann nicht viel nützen würde, fast schon sinnlos sei. Im Zentrum kümmern sich oft 1-2 Betreuer nur um ein Kind, während es in Pawlowsk doch so viele Kinder gibt, die auch meine Zuwendung viel dringender brauchen würden.
In zwischen sehe ich das nicht mehr ganz so.
Die Tageszentren (inzwischen sind es 2) sind ein alleiniges Projekt von Perspektivy. Der Verein hat hier viel mehr Freiheiten und kann die Kinder so betreuen und fördern, wie er es für richtig und notwendig hält. Ich glaube, das Tageszentrum kann sich durchaus neben einer Behinderteneinrichtung in Deutschland sehen lassen. . .
Die Kinder im Tageszentrum sollten nicht auf einen solchen Standard verzichten müssen, vielmehr sollten ALLE Kinder diese Chance erhalten!
Und wer weiß? Vielleicht sehen die (verantwortlichen) Menschen hier, einmal eines der Kinder aus dem Tageszentrum, denken einmal um und verstehen es dann, dass es für all die Kinder (in Pawlowsk) doch noch eine Perspektive gibt! Und hoffentlich wird es dann in naher Zukunft viel mehr solcher Projekte in Russland geben!