Mittwoch, 7. November 2012

Was wäre wenn. . .


Im Laufe der nächsten Wochen werden alle Freiwilligen von Perspektivy in 2 Gruppen nach und nach die anderen Projekte besuchen. Heute ging es los mit dem Besuch des Kinderheims für schwer mehrfachbehinderte Kinder in Pawlowsk, das ein wenig außerhalb der Stadt liegt.
Auf Pawlowsk war ich besonders gespannt gewesen, da ich dort ursprünglich arbeiten sollte und mich in Deutschland eigentlich auch schon darauf eingestellt hatte. . .
Der Wecker klingelt, viel früher als sonst, schon um 6. . . Ich frühstücke schnell und dann geht es los. . . Wir (Bettina und ich) fahren mit der fast menschenleere! Rolltreppe nach unten und bekommen in der Metro sogar gleich einen Sitzplatz! Vier Stationen später steigen wir aus und Treffen am Bahnhof Nastia. Weiter geht es mit der Eletritschka, das erste Mal für mich! Nach fast einer Stunde Fahrt geht es noch eine Viertelstunde zu Fuß weiter. Es ist immer noch dunkel und immer noch dieses seltsame Gefühl. Das wäre mein Arbeitsweg gewesen. . .
Wir kommen an ein Pförtnerhäuschen: Passkontrolle (wir stehen schon auf einer Besucherliste) und dann betreten wir das Gelände.
In Pawlowsk leben ca. 350 Kinder in 4 Häusern (Korpussen). Auf den Stationen kümmern sich vor allem Sanitarkas, also ungelernte Pflegerinnen, um die Kinder, füttern und waschen sie, sodass die Kinder aufs Nötigste versorgt sind. Ärzte und Physiotherapeuten gibt es leider nur sehr wenige. Das Kinderheim ist eine staatliche Einrichtung und die Kinder, die hier liegen, gelten als bildungsunfähig und damit auch als förderungsunwürdig. Das wusste ich schon über Pawlows und ich habe es mir damals in Deutschland, als es noch hieß, ich würde dort arbeiten, sehr trist und grau vorgestellt, wahrscheinlich auch, um am Ende nicht zu sehr geschockt zu sein.
Aber an den Fenstern eines Gebäudes, an dem wir vorbeilaufen, kleben bunte Fensterbilder. Das muss das Haus Nr. 4 sein. Hier hat Perspektivy vor mehr als 15 Jahren angefangen zunächst Freiwillige zu holen, die die Kinder wenigstens eine Zeit lang aus den Betten holen und ihnen etwas Zuwendung schenken.
Tatsächlich betreten wir das Haus. Es ist ziemlich alt und es riecht ein bisschen.
Die langen, schmalen Flure sind mintgrün gestrichen und wirken bei dem künstlichen Licht irgendwie etwas unwirklich. Lauter Türen.  Hin und wieder steht eine Tür offen und man sieht durch sie das Gesicht eines kleinen Bewohners. Die Zimmer sind viel heller, wärmer und freundlicher als die Flure und vor allem individueller. . . Jedes Zimmer sieht anders aus: bunte Gardienen, Fensterbilder, große Wandbilder, Herbstblätter und an den Decken Mobiles. Eigentlich ganz in Ordnung. . .
Die Kinder in ihren Betten, Rollstühlen oder auf den Fluren wirken alle so schwach und zerbrechlich und am liebsten würde man alle auf einmal in den Arm nehmen. . .
Die meisten Kinder sind sehr neugierig. Viele freuen sich und lachen uns an, andere beobachten uns nur ganz genau, andere scheinen uns aber auch gar nicht zu bemerken. Und immer wieder kommt ein Kind und spielt kurz mit einem von uns. Immer wieder greift eine kleine Hand nach einer von unseren und möchte mal hochgenommen werden. . .
Welche Veränderungen Perspektivy in diesem Haus schon bewirkt hat, ist wirklich beeindruckend:
In jedem Zimmer, in dem jeweils  5-10 Kinder leben, ist nun ein Freiwilliger und inzwischen gibt es auch ausgebildete Spezialisten von Perspektivy, die die Kinder weiter fördern.
Außerdem gibt es z.B. ein Klassenzimmer in dem die Kinder spielerisch unterrichtet werden,  Kunst- und Musikangebote und einen Snoozelraum.
 Nach dem Rundgang in diesem Haus gehen wir noch ins Haus Nr.2, in dem Perspektivy seit ungefähr einem Jahr arbeitet. Hier ist die Atmosphäre irgendwie anders. . . etwas kühler (was wohl auch daran liegen mag, dass es zur Zeit im unteren Teil keine Heizungen gibt, wie wir etwas später erfahren)
Alles hier ist noch etwas kleiner, etwas weniger bunt und etwas weniger lebhaft. . . Perspektivy wird in der staatlichen Einrichtung eigentlich nur „geduldet“ und kann deshalb nur sehr langsam Neues einführen, aber Pawlowsk ist wohl ein gutes Beispiel dafür, dass man auch mit vielen kleinen Schritten etwas bewegen und verändern kann. . .
Aber sagte ich gerade „weniger lebhaft“? . Naja, da kannte ich ja auch die letzte Gruppe noch nicht.
In dem letzten Zimmer wohnen die aktivsten Kinder, die uns schon in ihren Betten stehen begrüßen. Schnell sind alle Kinder bei uns auf den Armen, nehmen uns Besucher genau unter die Lupe oder laufen mit uns durch den Raum.
Ich weiß noch nicht einmal, wie das Kind hieß, mit dem ich gespielt habe, aber ich werde es bestimmt nicht so schnell vergessen. Wie es sich gefreut hat! Was von diesen Kindern (auch bei uns im Tageszentrum) kommt, ist einfach so ehrlich und unverfälscht und ich mich ertappte mich dabei immer wieder mit einem breiten Grinsen.
Und dann war unser Besuch auch schon wieder vorbei und es ging zurück, wieder mit so einem komischen Gefühl. Vielleicht eine Mischung aus Freude und Traurigkeit. . . Freude noch von dem Lachen der Kinder und ihren kleinen Händen in meinen Haaren; und Traurigkeit, dass diese Kinder so nach Zuwendung betteln müssen und über das was ihre kleinen Augen alles gesehen oder eben NICHT gesehen haben.
Dazu kam eine große Portion Nachdenklichkeit:
Was würden die Kinder alles können, wenn sie dieselben Möglichkeiten gehabt hätten in Deutschland?
Bei uns im Tageszentrum ist ein blinder Junge, der vor einem Jahr aus Pawlowsk adoptiert wurde. Er angefangen zu sprechen und inzwischen kann er auch schon sehr gut mit dem Blindenstock laufen. Vor einem Jahr sah das wohl noch gar nicht danach aus. . .
Und  da ist noch etwas: (Wie)kann es jemanden geben, den die Kinder von Pawlowsk und ihre Ge schichten nicht irgendwie berühren und nachdenklich stimmen?. .
Ich bin froh, Pawlowsk einmal gesehen zu haben, aber ich arbeite auch gerne im Tageszentrum, wo mir inzwischen schon alles sehr vertraut ist.
Anders als vielleicht in Pawlowsk hatte ich dort nicht das Problem, mit so viel Leid konfrontiert zu werden, sondern eher hatte ich zu Anfang fast das Gefühl, dass meine Hilfe hier kann nicht viel nützen würde, fast schon sinnlos sei. Im Zentrum kümmern sich oft 1-2 Betreuer nur um ein Kind, während es in Pawlowsk doch so viele Kinder gibt, die auch meine Zuwendung viel dringender brauchen würden.
In zwischen sehe ich das nicht mehr ganz so.
Die Tageszentren (inzwischen sind es 2) sind ein alleiniges Projekt von Perspektivy. Der Verein hat hier viel mehr Freiheiten und kann die Kinder so betreuen und fördern, wie er es für richtig und notwendig hält. Ich glaube, das Tageszentrum kann sich durchaus neben einer Behinderteneinrichtung in Deutschland sehen lassen. . .
Die Kinder im Tageszentrum sollten nicht auf einen solchen Standard verzichten müssen, vielmehr sollten ALLE Kinder diese Chance erhalten!
Und wer weiß? Vielleicht sehen die (verantwortlichen) Menschen hier, einmal eines der Kinder aus dem Tageszentrum, denken einmal um und verstehen es dann, dass es für all die Kinder (in Pawlowsk) doch noch eine Perspektive gibt! Und hoffentlich wird es dann in naher Zukunft viel mehr solcher Projekte in Russland geben!

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