Samstag, 22. September 2012

Von russischem Smalltalk und deutschen Kinderliedern

mmh...da hätte ich jetzt wohl auch schon die zweite Arbeitswoche geschafft. Im Gegensatz zur ersten Woche, die mir ewig vorkam und deshalb doch auch furchtbar anstrengeng war, habe ich das Gefühl, dass diese Woche wie im Flug vergangen ist. Das Wochenende kann ich zwar immer noch gut gebrauchen (naja, wer kann das nicht?), aber ich merke, dass ich mich jetzt an den Tagesrhythmus ganz gut gewöhnt habe, mich deshalb schon ganz anders auf die Tage einstellen und meine Kräfte besser einteilen kann.

Auch in dieser Woche ist wahnsinnig viel passiert! Von allem hier ganz genau zu berichten, würde aber ewig dauern, deshalb erzähle ich jetzt nur vom Mittwoch, dem ereignesreichsten Tag:
Am Mittwochmorgen hatte ich das erste Mal Fahrdienst, d.h. ich machte mich ein wenig früher als sonst (kurz vor 8) auf den Weg, um ein Kind von Zuhause abzuholen und es dann im Sozialtaxi zum Tageszentrum zu begleiten. Die Koordninatorin des Zentrums hatte mir eine Verbindung rausgesucht und erklärt, es sei gleich um die Ecke, was nach russischen Maßstäben natürlich bedeutete, das ich trotzdem immerhin noch eine gute Stunde mit dem Bus fahren musste. Um ganz sicher zu gehen, plante ich auch noch eine Dreiviertelstunde Pufferzeit ein und das war auch gut so. . .
Busfahren hier in St.Petersburg ist etwas anders als in Deutschland. Zum Beispiel gibt es keine Fahrpläne. Man stellt sich einfach an die Haltestelle und alle 5-10 Minuten (im Berufsverkehr) sollte dann ein Bus vorbeikommen. Und so stand ich dann also da und wartete.
Als ein Kleinbus vorbeifuhr streckten ein Paar Leute an meiner Haltestelle schnell den Daumen nach oben und hielten den Bus an. Ich hatte schon Angst, dass ich das auch machen müsste, aber der nächste Bus der kam, war eine 107 (ein normaler Bus) und er hielt direkt vor meiner Nase. Einsteigen konnte ich trotzdem nicht. In dem Bus stapelten sich bereits die Menschen. Ein Mann versuchte es trotzdem. Er quetschte sich noch (fragt mich nicht wie) auf die Einstiegsstufen und klammerte sich an den Jacken der anderen fest. Der Bus fuhr los und schloss erst, nachdem er bereits ein paar Meter gefahren war, die Türen, wobei er den Rucksack des zugestiegenen Mannes einklemmte. Ich schluckte. . .
Ich ließ noch zwei weitere nicht weniger volle 107er Busse an mir vorbeifahren und schluckte wieder. . . Jch war ja grade mal knappe 200 m von meiner Haustür weggekommen. . .
Da hielt wieder ein Bus, eine 106. Dieser Bus war vergleichsweise ziemlich leer und auf der Tür stand meine Haltestelle drauf. Schnell stieg ich ein. Dumm war nur, dass ich jetzt vorher nicht mehr auf dem Schild an der Haltestelle gezählt hatte, wie viele Stationen ich nun fahren musste. So etwas wie eine Anzeigetafel gibt es in russischen Bussen nämlich nicht.
Also gut, dann ebend jemanden fragen. Direkt neben mir stand ein Mann mittleren Alters (ich kann kein Alter schätzen, aber mittleren Alters klingt gut :D), bei dem ich irgendwie dachte, dass er vielleicht Informatiker sei und deshalb doch Englisch können müsste. "Простите, мы говорим немного по-английский?" Na bitte, das hieß "Verzeihung, sprechen Sie ein bisschen Englisch?" und kam doch schon recht flüssig über meine Lippen :D Als er dann aber in fließendem Englisch antwortete, war ich trotzdem froh, dass ich meine Russischkenntnisse nicht weiter auf die Probe würde stellen müssen. Ich sagte ihm, wo ich aussteigen müsste und zeigte ihm vorsichtshalber noch meinen Notizzettel. Er wusste leider nicht, wie viele Haltestellen es noch waren, fragte aber die Schaffnerin für mich, die mir daraufhin bedeutete, dass sie mir an der Haltestelle Bescheid sagen würde. 5 Stationen weiter, winkte sie mich dann aus dem Bus - "спасибо"
Der fuhr Bus fuhr ab und das Schild an der Haltestelle zeigte mir, dass ich mich in einer Straße befand, die bis auf die letzten 3 Buchstaben genauso hieß wie mein eigentliches Ziel. Na toll. . .
Zum Glück saß gleich ein paar Meter weiter eine Frau auf einer Bank, also noch einmal: "Простите, мы говорим по-английский?". "Нет"- sprach sie leider nicht, aber sie kannte sich aus und erklärte mir mit Händen und Füßen, den Weg zur Haltestelle, von der ich die 133 nehmen sollte und ich verstand genug, um den Weg gleich zu finden.
An der Haltestelle wartete schon ein älteres Ehepaar. Als ich mich mit meinen Zettelchen vor den Fahrplan stellte, diesmal jeden Buchstaben dreimal überprüfte und dann noch siebenmal die Stationen abzählte (der Fahrplan hängt ziemlich weit oben, da verzählt man sich schnell), sprach mich der Mann an. "Извините, я не понимаю." (Entschuldigung, ich verstehe nicht.) - Er redete trotzdem munter weiter, zeigte auf das Schild und schüttelte den Kopf. Wollte er mir jetzt etwa erklären, dass der Bus nicht fuhr?!! Ich blieb trotzdem an der Haltestelle stehen.
Er gab sich echt Mühe mit mir ein bisschen Konversation zu machen:
"Welche Sprache?" - "Deutsch" (und ich verfluchte es zum 100. Mal, dass ich Deutsch sprach. Warum konnte es nicht "испански"(Spanisch) oder "французский" (Französisch) sein? Bei "немецкий " verknote ich mir immer die Zunge :p)
- Schweigen -
"Woher kommen Sie?" - "Berlin" 
"Links oder Rechts?" - verdutztes Gucken meinerseits bis ich begriff, dass er wissen wollte, welchen Bus ich nehmen wollte - "Rechts" (der 133er Bus stand auf der rechten Seite der Fahrplantafel)
"Wir auch" - ich nickte
Er erzählte wieder etwas mehr und diesmal verstand ich, dass sie schon seit mehr als 30 Minuten hier warteten. Ich schielte auf die Uhr, mein Puffer war schon beträchtlich geschrumpft...in 20 Minuten sollte ich eigentlich da sein. Ich kramte nach meinem Handy (mit russischer SIM-Karte!), um die Mutter anzurufen. In diesem Moment stieß der Mann aus: "Dort ist unserer!"
Wir stiegen ein. Drei Stationen hatte ich abgezählt, aber sicher war sicher und ich hatte mich ja heute schon ganz gut auf Russisch durchgeschlagen. Also fragte ich die Schaffnerin nochmal nach der Station. Sie guckte lange auf den Zettel, dann drehte sie sich zu einem Mann hinter ihr um, fragte irgendwas und die beiden diskutierten kurz. Ich wurde unruhig. Schon wieder falsch? Schon war der ganze Bus in die Diskussion miteinbezogen. Jeder wollte mal was sagen. Ich guckte alle nur mit großen Augen an. Die alte Frau von dem Ehepaar von der Haltestelle bemerkte meine Verwirrung, nickte mir nur kurz zu und bedeutete mir mit einer lässigen Handbewegeung, ich solle ganz ruhig bleiben und mich hinsetzen, sie hätten alles im Griff. Dann kam eine Frau auf mich zu und erklärte mir (mit bühnenreifer Gestik untermalert), dass ich mit ihr zusammen aussteigen solle. Sie würde mich bis zu dem Haus mitnehemen. Aha, sie hatten also gleich darüber diskutiert zu welchem Haus ich müsste. Das war ja nett.
Jetzt versuchte mein Sitznachbar ein bisschen paar Worte Russisch aus mir herauszubekommen. Alle hörten uns zu und die restliche Fahrtzeit (wir steckten mitten im Berufsverkehr!) unterhielt ich den ganzen Bus.

Ich stieg mit der Frau aus, sie brachte mich bis zur Tür und erklärte mir sogar noch die Klingel. Machte ich denn so einen hilflosen Eindruck? Ich war eigentlich recht zufrieden mit mir :D
Der Junge, den ich abholen sollte, kam mit seiner Mutter runter und wir stiegen ins Auto. Heute fuhr sie uns noch ins Tageszentrum, um mir alles zu erklären. Erst das nächste mal sollten wir das Taxi nehmen. Erst war ich erleichert, weil ich über die Taxis schon einiges gehört hatte, aber auch bei ihrem Fahrstil konnte ich mich nicht wirklich entspannen. Die ganze Zeit über hatte sie nur eine Hand am Lenker, die andere war mit ihrem Sohn, dem Handy oder dem Lippenstift beschäftigt. Ein Wunder, dass sie es überhaupt ab und zu mal schaffte mit einem Auge auf die Straße zu schauen.
Im Tageszentrum fragte mich die Erzieherin, ob ich den Jungen, den ganzen Tag begleiten würde.
Ich nickte und fragte mich im gleichen Moment, ob ich mir das auch gut überlegt hatte.

Jetzt sollte ich euch vielleicht doch ersteinaml ein bisschen mehr über den Jungen zählen. Als ich ihn das erste Mal gesehen habe, hat er mich irgendwie an Astrid Lindgrens "Michel in der Suppenschüssel" erinnert. deshalb werde ich ihn jetzt auch so nennen.
Bisher hatte ich nicht sehr viel mit ihm zu tun gehabt und erinnerte mich nur noch lebhaft daran, wie er beim Mittagessen gerne mal den Suppenlöffel wegstieß und wild um sich schlug und auch mal biss, wenn man nicht aufpasste.
Allerdings hatte ich auf der Autofahrt ja schon gesehen, dass er auch ganz ruhig sitzen und sich einfach nur mit meinen Händen beshäftigen konnte, also würden wir uns schon irgendwie zusammenraufen. . .
Im Spielzimmer stürzte er sich gleich auf eine Kiste mit Plastikobst. Ich setzte mich hinter ihn und freute mich, wie leicht er sich schon mal beschäftigen ließ und offensichtlich hatte er auch Spaß. Dann die erste Herausforderung: Morgenkreis, also gut 10 Minuten auf das Spiel konzentrieren und ruhig sitzen bleiben. Es klappte! Wenn er sich wand und wegrobben wollte, hielt ich ihm die flache Hand hin und er fing an mit seinen draufzuklatschen.
Die Mission "Händewaschen" dagegen erwies sich dann aber als ziemlich schwierig.
Frühstück: naja, die erste Waffel wurde gleich einmal zerpflückt. . . also füttern, aber wie?!
Ich weiß nicht, wie das plötzlich kam, aber nach einer Weile, als ich mit meiner Geduld fast schon am Ende war, fing er an zu essen und konnte gar nicht mehr genug bekommen.
Nach dem Frühstück gingen wir mit den Kindern raus. Die Sonne schien und es roch schon nach Herbst. Nach einer Weile setzte ich mich mit Michel auf die Wiese und weil ich nicht wusste, was ich erzählen sollte, versuchte ich es einfach mal mit einem deutschen Kinderlied und Michel fing an dazu mit seinen Händen auf  meine zu klatschen und zu lachen. Also sang ich alle Kinderlieder, die mir noch so einfielen und war erstaunt, wie viele das doch waren.
Michels absolutes Lieblingslied: "Drei Chinesen mit dem Kontrabass" mit allen Vokalen, Um- und Zwielauten, die das deutsche Alphabet so zu bieten hat :D
Beim Mittag ging dann leider gar nichts, die ganzen Kinder und die Unruhe waren ihm wohl doch etwas zuviel. Ich setzte mich deshalb mit ihm alleine in ein anderes Spielzimmer und während ich noch überlegte, was wir spielen könnten, hatte er schon zwei Brettchen hervorgekramt, die eigentlich zu einem Holzpuzzle gehörten. Plötzlich war er ganz ruhig und ganz vertieft in die zwei Bretter. Ich setzte mich wieder hinter ihn, zusammen versuchten wir verschiedene Geräusche mit den Brettern zu machen und mir fiel ein Spruch ein, der auf einer Postkarte an meinem Kleiderschrank steht:

In dem Augenblick,
in dem wir einer Sache unsere volle Aufmerksamkeit schenken
- und sei es nur ein Grashalm-,
wird sie zu einer einzigartigen, wunderbaren
und großartigen Welt.
-Henry Miller-
 


In diesem Moment merkte ich, dass es stimmte :)
Nach einer Stunde gingen wir zurück zu den anderen, wir setzten uns in einen Kreis und spielten noch drei Spiele, dann war es auch schon vier und ich hatte Feierabend.

Den Donnerstag und den Freitag verbrachte ich wieder mit Michel. Diesmal brauchte ich nicht zweimal darüber nachzudenken, als mich die Erzieherin morgens wieder danach fragte :)
Inzwischen klappt selbst das Händewaschen (manchmal) ganz gut und wir schaffen zwei Teller zum Mittag (gegessen wird, wenn ich zwischendurch immer mal auf den Tisch klopfe oder das deutsche ABC aufsage)
Gestern habe ich mit dem Finger die Linien auf seiner Handfläche nachgezogen und er saß 10 Minuten einfach da und hat sich überhaupt nicht bewegt! Und es ist total schön, wie ruhig man selbst dabei wird.

Was ich diese Woche gelernt habe:
In Berichten, die wir demnächst jeden Monaten schreiben werden, sollen wir u.a. auf ein Kind etwas näher eingehen und seine Entwicklung beschreiben, aber diese Woche, war es, glaube ich, nicht Michel, der etwas dazugekernt hat - ICH bin diejenigen, die einfach "seine Sprache" lernen muss

1 Kommentar:

  1. Wahnsinn! Nicht bezogen auf den Straßenverkehr, sondern auf den kleinen Mann.Ich hab so das Gefühl, dass ihr noch richtig gute Freunde werdet!

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