Mittwoch, 12. September 2012

Mein erster Arbeitstag

Eigentlich hatte ich diesen Blogeintrag schon vor zwei Tagen verfasst, aber bisher leider noch keine Zeit gehabt, ihn nochmal Korrektur zu lesen und zu veröffentlichen. Nehmen wir also einmal an, es wäre heute Montag :)

Und wieder ist es Abend und ich schaue auf einen ereignisreichen Tag zurück:
meinen ersten Arbeitstag!
Heute ging es endlich richtig los! Es war zwar gut, dass ich die ersten Tage (anders als einige meiner Mitfreiwilligen) noch frei hatte und mich so in Ruhe einleben konnte, aber spätestens morgen wäre mir bestimmt zu Hause die Decke auf den Kopf gefallen. Außerdem will ich ja auch nicht ewig meinen "deutschen" Alltag hier in Russland leben, sondern neue Leute kennenleren und anfangen (so gut es ebend geht) ein bisschen mehr Russisch zu sprechen.
Aber nun zu dem, was ich heute erlebt habe:
Um 7:30 Uhr (also überpünktlich) klingelt mein Handywecker. Obwohl ich vor Aufregung nicht wirklich viel geschlafen habe, bin ich sofort hellwach. Schon bin ich angezogen und in der Küche am Frühstückstisch decken. Das Frühstück fällt leider etwas spartanisch aus, weil wir uns gestern Abend noch der Hunger überfallen hatte, wir uns aber geweigert hatten an einem Sonntag (hier haben die Läden fast rund um die Uhr geöffnet) einkaufen zu gehen. Man muss seine Prinzipien ja nicht gleich bei erster Gelegenheit über den Haufen werfen. Dann eben nur einen Blini und eine Scheibe Brot für jede. . . eine halbe Stunde später sind Bettina und ich, dann unterwegs zu unserer Stelle. Als wir uns unseren Weg durch den Berufsverkehr bahnen, sind wir doch ein bisschen . . . mir fehlt das richtige Wort dafür. . ."stolz" kommt dem vielleicht nahe, trifft es aber auch nicht wirklich . . . Egal, jedenfalls sind wir ab diesem Morgen keine Touristen mehr, sondern gehen mit den anderen St. Petersburgern zur Arbeit. Anderthalb Stunden dauert der Weg, den wir zu Fuß, mit der Metro und dem Bus zurücklegen, wobei wir wahrscheinlich deutlich schneller wären, wenn der Bus nicht in dem dichten Verkehr nur kriechend vom Fleck kommen würde.
Es ist schon Wahnsinn, wie viele Leute hier jeden Morgen (und Abend) unterwegs sind. Die Metro fährt dann zwar im Minutentakt, aber trotzdem ist jedes Abteil gut gefüllt und Sitzplätze sind heiß umkämpft. Die Regeln, nach denen der Straßenverkehr läuft, habe ich auch noch nicht so ganz durchschaut. Ich vermute allerdings, dass hier nur das "Gesetz des Stärkeren" gilt. Um das mal zu veranschaulichen: von allen Seiten drängeln die Autos erstmal auf die Kreuzung, stehen dann da kreuz und quer, dicht an dicht nebeneinander und wer sich traut, schiebt sich einen Zentimeter vorwärts. . .
Eine andere Freiwillige, mit der wir uns an einer Metrostation verabredet hatten, zeigt uns den Bus, mit dem wir ab jetzt jeden Tag fahren werden, und den Weg von der Haltestelle bis zur Einrichtung. Diese liegt in einer in einer ruhigeren Gegend, in der die Häuser alle recht neu aussehen. Wir biegen ein paar mal ab und ich versuch mir noch irgendwie den Weg zu merken, während mein Magen sich plötzlich vor Aufregung ganz wuselig anfühlt. Nach vielleicht gerade einmal 5 Minuten stehen wir vor einem verschnörkelten Eisentor.Wir drücken auf einen Knopf, um es zu öffnen und werden von einem ganz besonders scheußlichen, hohen Fiepton begrüßt. Wir betreten das Haus, das ich zunächst für eine Kirche gehalten hatte, noch ein paar Treppen raufgestiegen und dann betreten wir den 4. Stock, in dem sich die meisten Räume meiner Stelle befinden.
Ich bin angenehm überrascht. Alles wirkt sehr hell und einladend und ich fühl mich eigentlich gleich ganz wohl. Hinter einer offenen Tür erhasche ich den ersten Blick auf eines der Kinder, dass allerdings viel zu beschäftig mit einem kleinen Ball ist, um Notiz von mir zu nehmen.
Die Koordinatorin der Stelle begrüßt uns auf Deutsch und führt uns erstmal herum: modern ausgestattete Spielzimmer, Räume für Kunst- oder Physiotherapien und ein Speisesaal- ja, hier gefällt es mir!

Oh, vielleicht hätte ich das schon eher erwähnen sollen..ich meine, nur damit ihr wisst, wohin ich euch in meiner Erzählung eigentlich entführt habe ;)
Nach einer kleinen Planänderung arbeite ich jetzt nicht in dem Kinderheim in Pavlowsk, sondern in einem Tageszentrum für Kinder mit einer Behinderung, ein Projekt in der Familienhilfe von Perspektivy.
In Russland bekommen die Familien von Kindern mit Behinderung kaum staatliche Unterstützung. Die Invalidenrente ist sehr gering und auch sonst gibt es kaum Betreuungs- oder Förderangebote. Müttern, die ein Kind mit Behinderung zur Welt bringen, wird selbst heute noch nahe gelegt, es mit einer Unterschrift ins Heim zu geben. Möchte sie ihr Kind behalten und es zu Hause großziehen, bedeutet das eine schwere Belastung: das Kind muss rund um die Uhr betreut werden, was mit dem Wegfall eines Gehaltes und damit einer großen finaziellen Notlage verbunden ist.
Ein weiteres Problem ist die soziale Isolation der Familien. Neben der Pflege bleibt kaum Zeit, soziale Kontakte zu pflegen und ein Kind mit Behinderung zu haben, heißt auch, kaum das Haus verlassen zu können, da es in St. Petersburg nahezu unmöglich ist, sich mit einer körperlichen Einschränkung durch den Verkehr zu bewegen. Rollstuhlrampen sieht man hier so gut wie nirgendwo!
Vorallem viele Väter halten dem Druck dauerhaft nicht stand, weshalb viele der Mütter alleinerziehend sind.
Das Tageszentrum kümmert sich tagsüber um die Kinder, damit die Familien Zeit haben, einer beruflichen Tätigkeit nachzugehen und ihr "eigenes" Leben zu leben. Es gibt außerdem ein Gasthaus, in dem die Kinder auch für ein paar nächte bleiben können.
Dieses Tageszentrum hat Platz für ca. 15 Kinder. Heute sind es aber nur vier, denn die meisten Kinder kommen nicht jeden Tag. Da die Gruppe so klein ist, können die ausgebildeten Mitarbeiter und die Freiwilligen sich sehr individuell um die Kinder kümmern. Meistens begleitet man ein einzelndes Kind den Tag über.
So. . . Ich hoffe, ihr könnt euch jetzt etwas unter dem Projekt vorstellen :)

Unseren Rundgang beenden wir in einem der Spielzimmer. Schon schüttel ich der kleinen Katja (*in meinem Blog werde ich die Namen der Kinder alle ändern) die Hand und im nächsten Moment sitze ich auch schon mitten im Spielzimmer auf dem Teppich.
Meine erste Konatktaufnahme mit den Kindern erfolgt noch sehr zaghaft und vorsichtig, aber zu meiner Erleichterung fällt es mir gar nicht so schwer, wie ich manchmal befürchtet hatte. Dass wir so gut wie kein Russisch sprechen, ist zunächst gar nicht so wichtig. Die Kinder kommunizieren eh auf ihrer ganz eigenen Ebene und viele Leute in der Stelle sprechen ganz gut Deutsch und können uns das Wichtigste schnell erklären.
Ein Tag im Zentrum beginnt mit dem Morgenkreis: die Kinder reichen sich kurz die Hände, um miteinander in Kontakt zu treten und sich zu begrüßen. Dann spielen wir gemeinsam ein kurzes Spiel. Heute wird dabei ein Sack herumgereicht, aus dem jedes Kind einen Gegenstand nimmt, ihn betastet und dann an ein Anderes weiterreicht. Um 11 geht es nach unten in den Speisesaal zum (zweiten) Frühstück. Ich kümmere mich heute um Ivan, der im Rollstuhl sitzt und spastische Lähmungen hat. Beim Frühstück stoße ich dann doch ziemlich schnell auf meine sprachlichen Grenzen. Mit "ложка" (Löffel) und "каша" (Brei) ist vielleicht schon so etwas wie eine Grundlage geschaffen, aber zum Essen bekomme ich ihn trotzdem noch nicht überredet. Den Rest des Tages schlage ich mich dann aber doch noch ganz tapfer mit "да" (ja), "нет" (nein), "Мы гулаем" (wir gehen spazieren) und "давай" (auffordernder Ausruf) - na bitte!
Die Zeit bis zum Mittagessen verbringen wir bei dem schönen Wetter (wir führen in unserer WG eine Strichliste, um die Tage zu zählen, an denen es nicht einen Tropfen regnet und durften heute den ersten Strich machen!) draußen, sammeln Kienäppel, erforschen Blumen, beobachten einen Hund und bekommen sogar von einem Nachbarn Süßigkeiten geschenkt.
Als es um zwei Mittag gibt, hängt mir der Magen doch schon ziemlich auf den Knien. Immerhin liegt mein Frühstück auch schon ein paar Stunden länger zurück. Zuerst essen die Mitarbeiter und Freiwilligen, während einer die Kinder in einem Nebenzimmer beschäftigt. Dann ist wieder die kleine Meute dran und diesmal isst Ivan ganz schön viel und ich wunder mich, wie er bei so viel Lachen überhaupt etwas runterkriegt! Das Essen ist übrigens richtig lecker. Immer zwei Gänge und zum Trinken Kompott.
Nach dem Essen wird dann nochmal über den Boden gerobbt und gespielt und dann werden wir plötzlich daran erinnert, dass wir eigentlich schon Feierabend hätten :) So schnell verging die Zeit, aber ich bin doch ziemlich k.o. und echt froh als ich endlich zurück in die Wohnung komme, was sich inzwischen schon richtig nach "nach Hause kommen" anfühlt.
Zumal uns da schon ein leckeres Abendbrot erwartet. Unser Küken Sophie ;) war einkaufen und hat uns (noch warme!) Blinis mitgebracht. Laut dem, was die Verkäuferin auf die Folie geschrieben hat, ist meiner nur mit "shiz", was wohl "Cheese" heißen soll :D
Auf jeden Fall eine gelungende Überraschung und der richtige Abschluss für einen so schönen Tag - Vielen Dank, Sophie!!!

Was ich heute gelernt habe:
mmh. . . eine ganze Menge würde ich sagen. . .
vor allem vielleicht nicht zu viel nachzudenken, sondern einfach mal etws auszuprobieren und zu sehen was passiert (meistens merkt man ja ziemlich schnell an der Reaktion der Kinder, ob es ihnen gefällt und gut tut)

. . .
weil heute aber eigentlich doch schon Mittwoch ist, kann ich ja noch gaaaanz kurz etwas über meine neuen Erfahrungen ergänzen :)
auf der Arbeit läuft es jeden Tag noch ein bisschen besser. Den Tagesablauf habe ich, denk ich, schon ganz gut drin und ich finde mich auch immer besser im Haus zurecht. Auch wenn ich heute, noch einmal irgendwie mehrmals hintereinander falsch abgebogen sein muss, ein paar mal im Kreis lief und mich dann ganz orientierungslos vor der Küche wiederfand. Aber immerhin konnte ich auf Russisch nach dem Weg zur Treppe fragen!
Auch sonst war ich echt erstaunt, wie viele Drei-, Vier-, Fünfwortsätze ich bilden konnte :)
Ich frage viel, nach neuen Wörtern und die Mitarbeiter versuchen immer wieder, etwas auf Russisch zu uns zu sagen.
Ich merke auch, dass es mir immer leichter fällt, mich auf die Kinder (bei denen jedes wieder ganz anders als die anderen ist und jedes für sich ganz besonders!) einzulassen, und ich immer schneller merke, wie man mit ihnen reden oder etwas finden kann, dass sie eine Weile beschäftigt.

Was ich heute gelernt habe:
Wie sehr man sich zum Klops macht, nur damit man sie lachen sieht :D
Ich habe auf Russisch versucht vorzulesen, gesungen, ein Auto nachgemacht, Grimassen geschnitten und irgendwelche noch undefinierten Laute von mir gegeben!

So, jetzt reicht's aber. Mein Bett ruft!

2 Kommentare:

  1. Von wann bis wann arbeitet ihr denn?
    Wie viele Freiwillige sind denn in deiner Stelle?
    Und wie kommt es zu der Planänderung?
    Wenn wir uns dann mal sehen, will ich sehen, wie du über den Bodden robbst und komische Geräusche von dir gibst!

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    1. 1. Normalerweise arbeiten wir von 10:00 - 17:00 Uhr, so lange wie das Tageszentrum geöffnet hat. Dazu kommt dann immer noch ein Fahrtweg von 1,5h hin und zurück.
      2. Gute Frage :) das weiß ich selbst nicht so genau.
      Auf jeden Fall sind wir 3 Freiwillige, die jeden Tag da sind. Bettina und ich vom ICE und noch eine, von einer anderen Entsendeorganisation.
      3. Ursprünglich sollten im Tageszentrum 2 Freiwillige von einer anderen Organisation arbeiten, die dann aber doch nicht konnten. Deshalb wurden im Tageszentrum noch dringend Hilfe gebraucht. In Pawlowsk arbeiten schon ziemlich viele Freiwillige nicht nur aus Deutschland, sondern auch aus Polen und Russland. Außerdem war für Bettina und mich ganz am Anfang geplant, dass wir nach Priosersk (ca. 120km von St. Petersburg)in ein anderes Kinderheim gehen. Die Stellen wurden dann aber für dieses Jahr gestrichen. Daher waren wir in Pawlowsk sozusagen "überzählig" und wurden gefragt, ob wir uns auch vorstellen könnten, im Tageszentrum zu arbeiten. Wir waren eigentlich sofort einverstanden. Schließlich wollen wir ja auch da mithelfen, wo sie unsere Hilfe brauchen :)

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